Perspektiven des Protests: Politische Profilierung, Spaß und die Eventgeilheit der Medien ließen sich durchaus kombinieren

 Ein Höhepunkt der Bewegung war sie gewiss nicht, die zentrale Demonstration gegen Hartz IV am vergangenen Wochenende in Berlin. Vielleicht hätte sie vier Wochen früher stattfinden sollen, auf dem Höhepunkt der Montagsdemonstrationen. Vielleicht hätte sie dann die lokalen Widerstandsgeister beflügeln können. Vielleicht wären die Gewerkschaften ins Grübeln gekommen, ob sie sich nicht doch dem Protest anschließen sollten. Eine vertane Chance also? Ein Zeichen der Stagnation, wenn nicht des Rückschritts?

Bei allem Katzenjammer sollte man fair bleiben. In diesem Spätsommer 2004 ist eine Kultur des Sozialprotests entstanden, die von unmittelbar Betroffenen ohne Organisationserfahrung getragen wurde. Wenn Gewerkschaften oder Attac-Profis schwere Fehler begehen, mag harte Kritik berechtigt sein – für spontane Empörung gelten andere Maßstäbe. Sicher war es ein Risiko, allein auf den Faktor Masse zu setzen und die Erwartung zu nähren, dass Montag für Montag immer mehr Menschen auf die Straße gehen. In diesem Protestmodell war das Scheitern schon angelegt, kann man rückblickend sagen. Aber Politik bedient sich nun mal der historischen Erfahrung und der vorgefundenen Formen, oben wie unten. Und so war es eben in Ostdeutschland naheliegend, an den Geist von 89 anzuknüpfen und zu zeigen, dass Hartz IV für viele eine elementare Bedrohung ist. Auch wenn die Zugeständnisse von Schröder und Clement marginal geblieben sind – die Montagsdemonstrationen waren nicht folgenlos. Nach langen Jahren merkwürdiger Stille wird im Osten der Republik wieder öffentlich über das gesprochen, was die westlich dominierte Bundespolitik noch zu bieten hat. Dieser überfällige Austausch ist weit mehr als nichts, zumindest ein kleiner Schritt kommunikativer Aneignung der eigenen Lebensperspektiven. Was die vorgeblichen Sachzwänge bedeuten, ist in den Gesichtern auf der Straße kenntlich geworden. Künftig dürfte es nicht mehr so leicht sein, abstruse Argumentationen zu „verkaufen“, wie jene, dass die Bestrafung der Arbeitslosen Arbeit schafft.

Zur Resignation besteht kein Anlass. Aber ebenso falsch wäre es, auf eine kritische Bilanz zu verzichten. Die Montagsdemonstrationen sind letztlich eine Ein-Punkt-Bewegung geblieben, mit dem alleinigen Ziel, Hartz IV wenn schon nicht zu verhindern, so doch zumindest zu entschärfen. Obwohl Schröder stolz vom größten Reformwerk der bundesdeutschen Geschichte sprach, ist vielen Noch-Beschäftigten offenbar nicht vollends bewusst geworden, was die faktische Abschaffung der Arbeitslosenhilfe bedeutet. Zu Recht ist Hartz IV als Armutsprogramm bezeichnet worden – aber dabei hätte es nicht bleiben dürfen. Hartz IV ist auch ein Erpressungsprogramm, um Löhne zu drücken und Belegschaften einzuschüchtern. Die Aussicht, nach zwölf Monaten Arbeitslosigkeit ins Bodenlose zu sinken und bestenfalls mit Ein-Euro-Jobs abgespeist zu werden, wird die Gesellschaft insgesamt verändern. Wäre diese Dimension – Hartz IV als Türöffner für eine andere Republik – deutlicher benannt worden, hätte sich vielleicht auch mancher Gewerkschafter im Westen angesprochen gefühlt.

„Unsere Bündnispolitik war schlecht“ – so eine der Schlussfolgerungen, die am Sonntag nach der Berliner Demonstration von den Organisatoren gezogen wurde. Eine andere lautete: „Wir müssen zu den wichtigsten Themen qualifizierte Gegenvorschläge auf den Tisch legen und sie kreativ kommunizieren, nicht zuletzt mit Methoden zivilen Ungehorsams.“ Warum nicht Arbeitsagenturen besetzen und auf öffentlichen Plätzen einen riesigen runden Tisch organisieren? Warum nicht Bettelmärsche durch die wohlhabenden Viertel oder „spontane“ Podiumsdiskussionen in Edelrestaurants? Politische Profilierung, Spaß und die Eventgeilheit der Medien ließen sich durchaus kombinieren. Die nächste Protestwelle wird zeigen, ob auch die Deutschen so frech sein können, wie man in anderen Ländern längst ist.